Stress vs. Yoga
(inklusive einer kleinen Harry-Potter-Reference)
– ein Essay von Josefine Grath
Mein Ohr brummt wie ein Dieselgenerator. Mal wieder. Ein Augenrollen kann ich nicht vermeiden. Der Blick in den Spiegel zeigt dieses Roten betont von dunklen Ringen unter erschöpftem Blick. Auch meine Haut fühlt sich zurückversetzt in die Pubertät – eine Tatsache die durch mein nervöses Kratzen nicht unbedingt verbessert wird. Auch diese nacht war ich wieder zweimal scheint’s ohne Grund aufgewacht und hatte den Pfad zurück ins Schlummerland binnen Sekunden verloren.
„Du machst zu viel“, dröhnt mir der durchaus korrekte rat meiner besten Freundin im ohr – verstärkt durch das brummen des – nennen wir das kind beim Namen – stressbedingten tinnitus. „mach doch mal pause!“ Gute, sinnige Idee ihrerseits – schlechte, halbherzige Umsetzung meinerseits. denn mit einem freien Wochenende war’s wohl nicht getan. „Mmmmmpf…“, denke ich und wende den Blick wieder auf mein Smartphone, das mit einem fröhlichen Piepsen meine Bildschirmzeit von durchschnittlich 11 Stunden und 7 Minuten am Tag kundtut.
In einer Welt, die schneller und schneller wird, immer noch und noch vernetzter, immer „onliner“ – in dieser Welt in der wir Menschen oft ohne es wirklich zu merken konsumieren und uns konstant auf nicht nur Lärm, visuelle Signale, Licht, Gerüche sowie sozialen Stimulus reagieren – ist das Entstressen so wichtig geworden wie noch nie zuvor.
Die Lösung der westlichen Gesellschaft? Unzählige Meditations-Apps, immer neue Detox-Produkte und Wellness-Anwendungen, die uns den Stress aus Gedächtnis und Antlitz (denn das sollte doch bitte jugendlich faltenfrei bleiben) ziehen sollen. Dabei übersehen viele Menschen vor lauter Bäumen den Wald oder besser vor lauter Apps die zugrundeliegende Gabe: Yoga kann viele Bereiche unserer Stresserfahrung mindern.
Stress: Physisches und psychisches Ungleichgewicht im Körper.
Zwar unterscheiden wir zwischen körperlichem und psychischem Stress, dennoch möchte ich hier die These in den Raum stellen, dass Stress zu großen Teilen dann entsteht, wenn unser Körper aus dem Gleichgewicht gerät. Körperlich dann, wenn zum Beispiel wichtige Nährstoffe in der Nahrungsaufnahme fehlen oder wir zu viel einer anderen Substanz konsumieren; wenn wir uns durch Schlafmangel ans Äußerste bringen, oder wenn wir unseren Stoffwechsel durch zu viel Ruhe in den Winterschlaf bringen; wenn unsere Muskeln durch Bewegungsmangel verkümmern oder Mangels Pausen in den Zustand der Dauererschöpfung gebraucht werden..
Psychisch geraten wir dann in die Bredouille, wenn wir nur noch Anspannen und Verspannen, anstatt loszulassen und zu entspannen; wenn wir unter Dauerstrom stehen und keine Pausen nehmen; wenn unsere Ängste eine Fight-or-Flight-Reaktion provozieren, diese Energie aber keine Entladung finden kann; wenn wir mit unserer Umgebung in Konflikt stehen oder Einsamkeit empfinden anstatt Gemeinschaft. Aber natürlich auch dann, wenn das Leben uns einen Strich durch die Rechnung macht – durch den Tod einer geliebten Person oder durch schwere Krankheit. Wir geraten ins Trudeln.
Balancieren lernen: Yoga als mentales Stabilitätstraining.
Yoga hilft uns nicht nur physisch das Balancieren zu erlernen – man denke an die Tree Pose oder den Tänzer, in dem wir mit ein bisschen Übung dank unserer schnell-lernenden Faszien in Kürze selbst mit geschlossenen Augen mühelos zahlreiche Atemzüge verbringen zu können. Nein, in der modernen Yogastunde lernen wir auch mental zu balancieren, indem wir unsere negativen Emotionen zuzulassen – und gehen lassen; indem wir die Balance finden zwischen dem, was uns zu schaffen macht, und dem wofür wir dankbar sind. Wir unterfüttern unseren Geist mit Dankbarkeit um somit unsere Seele zurück in die Balance zu bringen. „Seelische Resilienz“ – so könnte man diesen Coping-Mechanismus ebenso beschreiben.
In der Yogaphilosophie tief verankert ist das Prinzip des „Detachments“ – des Loslösens, Loslassens. Aus der Yogaphilosophie heraus ergibt sich also ein wichtiges Instrument auf dem Weg zum „resilienten Ich“: Denn zugleich bedeutet dies, sich von seinem Ego und all dessen Facetten zu verabschieden – Stolz, materialische Wünsche, Emotionen „and all“. Wir sind die Leinwand, über die der Film flickert – nicht der Film, der abläuft. Wir sind das Meer selbst, nicht die Wildheit oder Seichte der Wellen. Unsere Gefühle – Wut, Trauer, Sorge – machen uns nicht aus. Unser Geist kann sich davon erholen.
Statt Davonrennen: Fight or Flight Response durch Asanas lösen.
Die oft unbewusst ablaufende Fight-or-Flight-Reaktion unseres Körpers als Antwort auf physischen und mentalen Stress findet oftmals keine Entladung – oder wann bist du das letzte Mal schreiend aus dem Büro deines Kollegen gerannt (oder hast sie/ihn zum Duell gefordert) nachdem es zum Konflikt kam? Dieser Stress verbleibt dann in unserem Körper und bringt uns im schlimmsten Falle sogar in die sogenannte Allostase – also über unsere veträgliche Stressschwelle hinaus.
Stress, ob real in Form von realer Angst (bspw. Ich höre Schüsse) oder irrealer (bspw. Versagensangst, sollte man eine Arbeit nicht perfekt erledigen können) hat profunde Auswirklungen auf unser Nervensystem sowie unseren gesamten Körper. Wir werden buchstäblich unter Strom gesetzt; der Körper mobilisiert alle Kräfte um zu Flüchten oder zu Kämpfen. Angenommen dieser Stress verbleibt in der Form von Cortisol als Dauerbelastung in unserem Körper, dann bringen wir unser gesamtes System aus dem Gleichgewicht: wir werden krank. Heute geht man davon aus, dass bis zu 80 Prozent aller Krankheiten durch Stress bedingt oder verstärkt werden! Was also tun?
Selbst wenn wir uns entscheiden mental loszulassen: um nachhaltig zu Entstressen muss unser Körper nachziehen – oder ggf. bereits die Vorarbeit geleistet haben. Unsere Asana-Praxis gibt hierfür den idealen Rahmen. Sie bringt das Herz-Kreislauf-System in Gang, ernährt unser Gewebe und hilft körperliche Verspannungen in Form von verklebten Faszien, verkürzten oder dauergespannten Muskeln zu lösen. Dabei trainieren wir mit einer aktiven Yogapraxis auch unsere neuromuskuläre Ansteuerung, koordinieren und stimulieren unsere inneren Organe (sowie die Verdauung). Der verkrampfte angespannte „ready to fight or flee“ Körper öffnet sich und erlaubt uns eine tiefere Entspannung im Anschluss (und bestenfalls auch einen super Schlaf post-Yogaunterricht).
Raus aus dem Alarm-Modus: Klarheit in der Ruhe finden.
Lösen wir den Körper aus der sympatischen Stress-Reaktion ermöglichen wir nicht nur die physische Regeneration sondern beginnen auch das mentale Heilen. All unsere Asanas zielen im Grunde genommen auf ein Ziel ab: die Klarheit, die uns die Mediation bringen kann. Die Gedanken zur Ruhe kommen lassen. Re-evaluieren, was wichtig ist.
Im modernen Yoga lernen wir in der westlichen Gesellschaft die Stille wieder zu schätzen. Allein zu sein mit den eigenen Gedanken ermöglicht uns, zu Verarbeiten – ob unterbewusst oder in der aktiven Bewusstseinsebene. Geleitete Meditationen bieten hierbei auch für unerfahrene einen guten Einstieg und bieten einen nachweisbaren Ausweg aus der Panikreaktion. Doch auch unser Atem ist beim Kontrollieren unserer Stressreaktion ein wichtiges Tool.
Pranayama-Power: Reizüberflutetes Nervensystem mithilfe unseres Atems zur Ruhe bringen
Das Kernstück des Yogas, die Kontrolle des Atems, wirkt maßgeblich auf unser Nervensystem sowie unser Herz-Kreislauf-System ein und kann somit zum wichtigen Instrument werden, um unseren Körper in Homöostase zu halten. In anderen Worten: der Schlüssel zum Entstressen liegt in uns! Angeboren – unbewusst – automatisch.
Yoga hilft uns nun nicht nur buchstäblich unseren Atem zu finden, sondern auch bewusst wahrzunehmen. Es lehrt uns die Kontrolle unsers Atems ins physisch durchaus anstrengenden Positionen – eine Fähigkeit, die wir mit wenig Transferleistung in unserem alltäglichen Leben anwenden können.
Doch auch ganz konkret vor Ort, im Yogastudio, auf der Matte, können wir diese Entspannung des Nervensystems, das Umschalten vom sympatischen-Stress-reaktiven-„lass-mal-Alarm-schlagen“-Nervensystem ins parasympatische Nervensystem wechseln.
Expecto Parasympatikus: Unser „Schutzzauber“ vor bösen Dauerstress-Dementoren
Das Zauberwort ist: Erholung. Um Balance zu finden müssen wir raus aus dem sympatischen Nervensystem und seinen unbewussten Panikreaktionen und hinein in das parasympatische Ruhe- und Regenerationsnervensystem, das uns hilft die Homöostase zu reetablieren und unseren Stress buchstäblich zu verdauen. Hierbei kann Yoga langfristig, sowohl als auch kurzfristig zur ersten Geige werden! Denn:
Durch Yoga-Praktiken wie Pranayama, Yoga Nidra und Meditation – um nur ein paar zu nennen – helfen wir unserem Körper die Weichen umzustellen. Wir ermöglichen uns, „runter zu fahren“, erlauben uns für die 60-90 regulären Minuten einer Yogaklasse mit Achtsamkeit in unseren Körper hineinzuhören. Während wir im Lärm unseres Alltag zu reizüberflutet sind, um unsere Verspannungen und andere Symptome zu entdecken, hören wir nun zu. Wir erden uns durch unsere Sinneswahrnehmungen – Schwere! Atem! – und sind ganz bei uns. Bye bye Stress. Hallo Erholung.
Je regelmäßiger wir uns diese Zeit für uns nehmen, desto mehr generieren wir das Gegengewicht, das wir brauchen um die Waage auszugleichen: auf der einen Seite unser stressiger Alltag mit vielen Dingen, die wir leider nicht beeinflussen können. Auf der anderen Waagschale: Unsere durch Yoga geschulte Selbstliebe, unsere kultivierte Achtsamkeit. Und ganz viel optimistische Dankbarkeit.
Dieses Essay habe ich im Rahmen meiner Yogalehrerfortbildung beim moveorespiro in Stuttgart geschrieben. Ein riesiger Dank geht an unseren Dozenten Stefan Sick, der sein Wissen zu „De-Stress & Recover“ mit uns geteilt hat und daher diesen Text mit Hintergrundwissen gefüttert hat. „I can see clearly now, the rain is gone.“ 🙂 Danke!